Vorrang von Einsatzfahrzeugen
Ferdinand Bachinger
Admin | 05. März. 2023
OGH vom 17.01.2023, 2 Ob 211/22a:
Das – der Klage stattgebende – Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zu, weil aktuelle Rechtsprechung des Höchstgerichts zur allgemein bedeutsamen Frage, welches generelle Verhalten des Fahrers eines Einsatzfahrzeugs (noch) als sozialadäquat im Sinn des § 26 Abs 2 StVO (und damit nicht als mitverschuldensbegründend) anzusehen sei, fehle. Vergleichbare Entscheidungen, in denen eine allenfalls „völlig ungehemmte Art der Lenkung eines Einsatzfahrzeugs“ zu beurteilen waren, datierten aus den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts.
Einsatzfahrzeugen kommt nach § 19 Abs. 2 StVO immer der Vorrang zu, gleichgültig woher sie kommen und wohin sie fahren. Der Lenker eines Einsatzfahrzeugs ist nach § 26 Abs. 2 StVO – außer in den hier nicht relevanten Fällen des Abs. 3 – nicht an Verkehrsverbote oder Verkehrsbeschränkungen gebunden. § 26 Abs. 5 Satz 1 StVO verpflichtet jeden Straßenbenützer, für den das Herannahen eines Einsatzfahrzeugs erkennbar ist, diesem Platz zu machen. Der Lenker des Einsatzfahrzeugs darf nach dieser Bestimmung in Zusammenhang mit § 3 StVO damit rechnen, dass alle Verkehrsteilnehmer seinen Vorrang respektieren.
Dieses Vertrauen musste nicht zwingend durch den am Beklagtenfahrzeug gesetzten linken Fahrtrichtungsanzeiger erschüttert werden. Der im Zug des Überholvorgangs auf die Gegenfahrbahn wechselnde Klagslenker durfte darauf vertrauen, dass der andere Verkehrsteilnehmer die Fahrlinie des Einsatzfahrzeugs nicht kreuzt. Vor dem Linkszug des Beklagtenfahrzeugs lag noch kein „augenfälliges Gehaben“ des Beklagtenlenkers vor, das dieses Vertrauen nicht mehr gerechtfertigt hätte.
Welches von den einem Einsatzfahrzeug zur Verfügung stehenden Warnzeichen oder ob beide zugleich zu betätigen sind, hängt von der Lage des Einzelfalls ab und begründet demnach in der Regel ebenfalls keine erhebliche Rechtsfrage. Dass das Berufungsgericht den Umstand, dass beim Einsatzfahrzeug nicht auch das Folgetonhorn eingeschaltet war, angesichts der konkreten Umstände (Tageslicht, gerade Straße, keine schlechte Sicht) nicht als Verschulden des Lenkers des Einsatzfahrzeugs gewertet hat, hält sich im Rahmen der Rechtsprechung.
Unsere Meinung dazu
In dieser Deutlichkeit ist die Entscheidung des OGH überschießend. Wenn das wahr wäre, was der OGH schreibt, müsste man Einsatzfahrzeugen tatsächlich unter allen und jeden Umständen Platz machen. Was aber, wenn kein Platz vorhanden ist oder, wenn man z.B. über eine Verkehrsinsel oder einen hohen Randstein ausweichen müsste und damit einen Schaden am eigenen Fahrzeug riskieren würde? Das kann nicht die Intention des Gesetzgebers sein. Der OGH hätte gerne ergänzen dürfen, dass das Einsatzfahrzeug hier zwar Vorrang hatte, dies aber genauso eine Frage des Einzelfalls ist, wie ein allfälliges Mitverschulden des Einsatzlenkers.