Überfahren einer Sperrlinie

Ferdinand Bachinger
Admin | 09. Februar 2025
OGH vom 12.12.2024, 2 Ob 191/24p:
[1] Am 4 5. 2023 ereignete sich in Wien auf der Brünner Straße stadteinwärts bei der „Ampelkreuzung Am Spitz“ ein Verkehrsunfall, bei dem der im Eigentum des Klägers stehende und von ihm gelenkte PKW und ein bei der Beklagten haftpflichtversichertes Motorrad beteiligt waren.
[2] Die stadteinwärts führende Fahrbahnhälfte der Brünner Straße weist – entsprechend der zum integrierten Urteilsbestandteil erklärten Skizze der Unfallörtlichkeit – vor der Kreuzung zwei, jeweils mit unterschiedlichen Richtungspfeilen versehene Fahrstreifen auf, wobei der rechte Fahrstreifen ca 3,2 m und der linke Fahrstreifen ca 3 m breit ist. Beide Fahrstreifen werden in Annäherung an die Haltelinie durch eine 9 m lange Sperrlinie getrennt.
[3] Der Kläger hielt sein Fahrzeug vor der Kreuzung wegen Rotlichts auf dem linken Fahrstreifen an. Bis zur Sperrlinie verblieb eine Breite von rund 60 cm. Das rechts neben dem Fahrzeug des Klägers auf dem rechten Fahrstreifen stadteinwärts angehaltene Fahrzeug hielt einen Abstand von ca 70 cm zur Sperrlinie ein.
[4] Als die Beifahrerin des Klägers ohne Blick in den Rückspiegel oder über die Schulter ihre Türe öffnete, kam es zur Kollision der Türe mit dem Motorrad, dessen Lenker von hinten aufschloss und mit Schrittgeschwindigkeit zwischen den Fahrzeugen vorfahren wollte, wobei er die Sperrlinie überfuhr oder zumindest überragte. Der Motorradfahrer hätte die Kollision nach seinem Entschluss, zwischen den Fahrzeugen vorzufahren, nicht mehr verhindern können.
[5] Der Kläger begehrt den Ersatz seines Sachschadens und pauschaler Unkosten. Er bringt – soweit noch relevant – vor, das Alleinverschulden treffe den Motorradlenker, weil er unter Überfahren der Sperrlinie an seinem Fahrzeug vorbeigefahren sei, womit seine Beifahrerin nicht rechnen habe müssen.
[6] Die Beklagte wendet das Alleinverschulden der Beifahrerin des Klägers ein. Der Motorradlenker habe auf das unzulässige Öffnen der Türe nicht mehr unfallvermeidend reagieren können.
[7] Das Erstgericht wies die Klage ab. Der eingetretene Schaden sei nicht vom Schutzzweck des vom Motorradlenker verletzten § 9 Abs 1 StVO erfasst, der in der vorliegenden Konstellation (nur) das rechtzeitige Einordnen sicherstelle.
[8] Das Berufungsgericht bestätigte die Entscheidung. Zwar sei das generelle Verbot, Sperrlinien zu überfahren (§ 9 Abs 1 StVO), auch im Anwendungsbereich des § 12 Abs 5 StVO zu beachten. Die hier vorliegende Sperrlinie vor dem Kreuzungsbereich zwischen Fahrstreifen mit unterschiedlichen Richtungspfeilen diene aber nur dazu, das rechtzeitige Einordnen sicherzustellen. Im Zug des Vorschlängelns bestehe jedoch keine Verpflichtung zum Einordnen entsprechend der vorhandenen Richtungspfeile, weil § 12 Abs 4 StVO betreffend die Beachtung der Bodenmarkierungen nicht auf § 12 Abs 5 StVO Bezug nehme. Müssten sich vorschlängelnde Fahrzeuge nicht entsprechend den Richtungspfeilen einordnen, wäre es aber unlogisch, von ihnen die Beachtung der in den letzten Metern vor der Haltelinie angebrachten Sperrlinie zu fordern, die nur das Einordnen sicherstellen solle. Sie könnten sonst – entgegen der Intention des Gesetzgebers – nie bis zur Haltelinie vorfahren. Das Verbot des § 9 Abs 1 StVO, Sperrlinien zu überfahren, beziehe sich nach dem Zweck des § 12 Abs 5 StVO daher nicht auf „vorschlängelnde“ Fahrzeuge bei Sperrlinien, die einzelne Richtungsfahrstreifen vor Kreuzungen im Sinn des § 18 BodenmarkierungsVO trennen. Die ordentliche Revision ließ das Berufungsgericht zur Frage zu, ob einspurige Fahrzeuge im Zug des Vorfahrens gemäß § 12 Abs 5 StVO die zwischen zwei Richtungsfahrstreifen vor einer Kreuzung gemäß § 18 BodenmarkierungsVO angebrachte Sperrlinie ungeachtet des generellen Verbots gemäß § 9 Abs 1 StVO überfahren dürfen.
[9] Dagegen richtet sich die Revision des Klägers mit dem erkennbar auf Stattgebung der Klage gerichteten Abänderungsantrag. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[10] Die Beklagte beantragt, der Revision nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
[11] Die Revision ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO nicht zulässig.
[12] 1. Gemäß § 9 Abs 1 StVO dürfen Sperrlinien nicht überfahren werden.
[13] Dies gilt grundsätzlich auch im Zuge des „Vorschlängelns“ iSd § 12 Abs 5 StVO (vgl Vergeiner in Kaltenegger/Koller/Vergeiner, Die Österreichische Straßenverkehrsordnung § 12 StVO VI; Grundtner, Vorschlängeln, ZVR 1999, 146; implizit auch schon 2 Ob 197/13d Pkt 4.).
[14] 2. Ob dieser Grundsatz gleichermaßen bei Sperrlinien iSd § 18 BodenmarkierungsVO gilt, die durch Richtungspfeile gekennzeichnete Fahrstreifen vor einer Kreuzung voneinander trennen, bedarf im vorliegenden Fall keiner Klärung, weil die Abweisung der Klage aus anderen, keine Rechtsfragen der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO tangierenden Gründen nicht zu beanstanden ist (Lovrek in Fasching/Konecny3 IV/1 § 502 ZPO Rz 123).
[15] 3. § 9 Abs 1 StVO verbietet – nach dem klaren und daher keine erhebliche Rechtsfrage aufwerfenden (RS0042656) Gesetzeswortlaut – lediglich ein Überfahren von Sperrlinien. Eine Sperrlinie ist (erst) dann überfahren, wenn zumindest mit einem Rad auf ihr gefahren wird (2 Ob 307/99g; Pürstl, StVO-ON16 § 9 Anm 2). Lediglich im Anwendungsbereich des § 16 Abs 2 lit b StVO darf eine Sperrlinie auch nicht überragt werden (Pürstl, StVO-ON16 § 16 Anm 17; vgl auch Vergeiner in Kaltenegger/Koller/Vergeiner, Die Österreichische Straßenverkehrsordnung § 16 Zu Abs 2 lit b).
[16] Nach den Feststellungen des Erstgerichts überfuhr oder überragte der Motorradlenker die Sperrlinie.
[17] 4. Wird ein Schadenersatzanspruch auf die Verletzung eines Schutzgesetzes gestützt, dann hat der Geschädigte den Schadenseintritt und die Verletzung des Schutzgesetzes als solche zu beweisen. Für Letzteres reicht der Nachweis aus, dass die Schutznorm objektiv übertreten wurde (RS0112234). Verbliebene Unklarheiten gehen daher zu Lasten des Geschädigten (2 Ob 231/22t Rz 22).
[18] Da dem Kläger der Nachweis einer objektiven Übertretung des § 9 Abs 1 StVO im Sinn eines Überfahrens nicht gelungen ist, erweist sich die Abweisung der Klage schon deshalb als berechtigt, ohne dass es einer Klärung der vom Berufungsgericht aufgeworfenen Frage bedürfte. Auf eine – von den Vorinstanzen verneinte – Verletzung des § 12 Abs 5 StVO wegen Einhaltung eines zu geringen Seitenabstands im Zuge der Vorfahrt, kommt die Revision nicht mehr zurück.
[19] 5. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 40, 50 ZPO. Die Beklagte hat auf die Unzulässigkeit der Revision nicht hingewiesen, weshalb ihre Revisionsbeantwortung nicht der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung diente (RS0035962, RS0035979).
Unsere Meinung dazu
Der OGH trifft in dieser Entscheidung leider keine allgemein verwertbaren Aussagen, außer, dass das Überfahren von Sperrlinien im Zuge des Vorbeischlängelns nicht wichtig genug ist, als dass er sich damit befassen würde. Die Entscheidung hat sich der OGH dabei leicht gemacht, und die Zurückweisung der Revision darauf gestützt, dass der Kläger nicht bewiesen habe, dass die Sperrlinie tatsächlich überfahren worden ist (ein bloßes Überragen reicht nicht aus). Sehr salomonisch.